Für die Implementierung von Industrie 4.0-Lösungen ist es erforderlich, die dazugehörigen technischen Systeme umfassend zu planen und zu entwickeln. Angesichts der zunehmenden Komplexität dieser Systeme bedarf es neuer Methoden und Instrumente. Rainer Stark, ein Mitglied des durch acatech koordinierten Forschungsbeirats Industrie 4.0 und Leiter des Fachgebiets Industrielle Informationstechnik an der Technischen Universität Berlin, erörtert in einem Interview die entscheidenden Methoden und Werkzeuge für die Realisierung von Industrie 4.0 sowie die vorrangigen Handlungsbedarfe deutscher kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU).
Herr Stark, die steigende Komplexität der Systeme und die Orchestrierung der übergeordneten Systemverbünde in der Industrie 4.0 erfordern eine ganzheitliche Herangehensweise im Engineering. Wo liegen Ihrer Meinung nach zentrale Lösungsansätze? Die Zusammenhänge zwischen technischen Teilsystemen, von System-of-System Netzwerken (z.B. Produkt zu Infrastruktur) und in Form von Mensch-Technik-Interaktionen lassen sich mit Advanced Systems Engineering im Sinne eines synthetischen Baukastens beherrschen. Die System-Denkweise im Zusammenspiel mit modellbasiertem Engineering bietet hierzu die Grundlage. Der zunehmende datenbasierte Betrieb von Industrie 4.0-Systemen erfordert zusätzlich die intensive Nutzung von Datenanalytik bzw. Data Engineering, um u.a. auch Künstliche Intelligenz als Lösungselement zu qualifizieren.
Für KMU ist Industrie 4.0 ebenfalls ein wichtiges Thema. Was empfehlen Sie Unternehmen, die Industrie 4.0-Lösungen erproben wollen? Besteht hier noch Handlungsbedarf am deutschen Standort, um KMU beim Testen zu unterstützen? Es ist anzuraten sich graduell aus der Eigenexpertise der KMU heraus den neuen Bausteinen der Industrie 4.0 Lösungen zu öffnen. So können z. B. Digitale Zwillingslösungen stufenweise erweitert werden, von den einfachen Stufen der digitalen Typenschilder und Produktpässe über weiterführende Stufen der Wartungs- und Reparaturanalysen bis hin zu Echtzeitsystemen des funktionalen Betriebs (wie z. B. über adaptive entfernte Steuerungen). Hierzu stehen Testmöglichkeiten von Industrie 4.0-Zentren und Universitätsinstituten zur Verfügung.
Wo sehen Sie die größten Forschungs- und Entwicklungsbedarfe, um aus der zunehmenden Datenvielfalt des operativen Betriebs eine verbesserte Auslegung und Entwicklung von Produkten und Produktionssystemen zu ermöglichen? Es ist entscheidend, wie wir in Deutschland das neue Zusammenspiel zwischen tiefen Ingenieurkenntnissen über Produkte, produktionstechnischen Anlagen und technischen Systemen mit den neuen digitalen IT-basierten Fähigkeiten gestalten. Hierzu gibt es große Forschungs- und Entwicklungsbedarfe bzgl. der modellbasierten Systemgestaltung, der neuen kombinierten ad-hoc Simulationsfähigkeiten, der operativ adaptierbaren digitalen Zwillingslösungen und den damit verbundenen notwendigen Datenplattformen und -räumen. Anders als in der Vergangenheit müssen wir sehr darauf achten, dass wir für die unterschiedlichen Berufe verstehbare und leicht erlernbare IT-Applikationen gleichermaßen berücksichtigen.